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Martin Schüwer-Publikationspreis

Verkündung des Preisträgers des Martin Schüwer-Publikationspreises 2021

Martin Schüwer-Publikationspreis für Benoît Crucifix

Die AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) und die Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) freuen sich, den Martin Schüwer-Publikationspreis 2021 an Benoît Crucifix für seinen Aufsatz „Drawing, Redrawing, and Undrawing“ zu vergeben. 

Benoît Crucifix ist Postdoc an der Faculty of Arts and Philosophy der Universität Gent. Sein Aufsatz erschien im September 2020 in dem von Frederick Benoît Crucifix ist Postdoc an der Faculty of Arts and Philosophy der Universität Gent. Sein Aufsatz erschien im September 2020 in dem von Frederick Luis Aldama herausgegebenen „Oxford Handbook of Comic Book Studies“.

Benoît Crucifix’ Beitrag eröffnet anhand einer Trias aus unmittelbar verständlichen Begriffen (Drawing, Redrawing, and Undrawing) ein breites und anregendes Panorama von Comicbeispielen, in denen das Kopieren und Nachzeichnen von Elementen eine zentrale Rolle spielt. Der Aufsatz schließt an das in der Comicforschung zunehmend virulente Interesse an Fragen des Zeichnens und der graphischen Spuren an und rekurriert konzise auf eine Vielzahl an theoretischen Positionen. Damit schafft er einen Überblick über ein Feld, das noch kaum systematisch erfasst wurde, und bereitet den Boden für weitere Forschungen.

Doch „Drawing, RedDoch „Drawing, Redrawing, and Undrawing“bietet mehr als das, was man von einem exzellenten Handbuchartikel erwarten würde. Auf sehr originelle und überzeugende Weise leistet Crucifix eigene terminologische und theoretische Arbeit. „Drawing, Redrawing, and Undrawing“ bezieht sich, auf Nelson Goodmans Unterscheidung zwischen autografischen und allografischen Kunstgattungen, um den speziellen medialen Status von Comics zu verdeutlichen: Autografisch sind Künste, in denen aufgrund der Produktionsgeschichte zwischen ‚Original‘ und ‚Fälschung‘ unterschieden werden kann wie in der Malerei; allografische Gattungen hingegen erlauben verschiedene Versionen oder Aufführungen eines Kunstwerks unter veränderten Vorzeichen, ohne dass spätere Varianten zwingend einem ‚Original‘ untergeordnet wären, wie in der Musik. Betrachtet man das Medium Comic, versagt diese binäre Struktur allerdings. Wie Crucifix durch konkrete Analysen zeigt, sind Comics hier ambivalent. Sie sind sowohl auto- als auch allografisch, da Kopieren und Nachzeichnen zu den zentralen Strategien eines Mediums gehören, das von der Sichtbarkeit einer persönlichen Hand geprägt und doch zugleich ein mechanisch reproduziertes Massenmedium ist. Während die Strategie des „Redrawing“ sich hier noch im Rahmen durchaus traditioneller transmedialer und selbstreflexiver Bezüge bewegt, schlägt Crucifix mit „Undrawing“ einen radikalen und anregenden Begriff für ein quasi-destruktives Phänomen vor, für einen Bezug auf ältere Comics, der ihre Elemente von jedem historischen Kontext entkleidet und stattdessen die Materialität des Mediums ins Zentrum rückt, indem übernommene Fragmente stets als solche sichtbar bleiben. Im Extremfall mag ein Comic, der sich selbst ‚entzeichnet‘, aus leeren Seiten bestehen – Vorstellungen von Originalität und Genie greifen hier nicht mehr. 

Cruxifix untersucht diese Phänomene in Form einer „graphic archiveology“, die er, in Anlehnung an Jared Gardner, als „a medium-specific approach to questions of citationality in comics and graphic novels that involves a deep relationship—at times a tense one—to the act of drawing“ versteht. Seine zumeist zeitgenössischen Beispiele stammen von unabhängigen Verlagen aus Europa und Nord-Amerika und sind teilweise wenig bekannt, und schon dies macht die Lektüre des Aufsatzes zu einem großen Gewinn. Crucifix bezieht sich auf Comics von Mark Laliberte, Charles Burns, Kevin Huizenga, Ron Regé, Robert Sikoryak, Charles Forsman und Melissa Mendes, Dan Walsh, Ilan Manouach, Jochen Gerner und andere. „Drawing, Redrawing, and Undrawing“ ist flüssig geschrieben und Vokabular und Methode bewegen sich stets auf der Höhe der Forschungsdebatten und sind der Komplexität ihres Gegenstands absolut angemessen. Gekonnt changiert Benoît Crucifix zwischen der Mikroebene, zwischen closereadings von einzelnen Comics und Erörterungen zu ihrem jeweiligen Stil, und der Makroebene, auf der kulturelle und kontextuelle, soziale und ökonomische Faktoren in die Analyse mit einbezogen werden. Am Schluss des Aufsatzes erweitert Crucifix den Blick und identifiziert Tendenzen, die die europäische von der US-amerikanischen Comickultur unterscheiden: In den USA hallt eine Geschichte nach, die das Medium mit delinquentem Verhalten assoziierte, und noch immer kämpft es teilweise um seine künstlerische Legitimität. „Redrawing“ ist geeignet, um einen Kanon zu etablieren, der Bezug auf Vorgänger_innen ist hier affirmativ, und so mag sich die sehr starke Präsenz dieser Strategie in US-amerikanischen unabhängigen Comics erklären. „Undrawing“ dagegen findet vielleicht nicht von ungefähr in vielen europäischen, quasi schon ‚legitimen‘ Comics statt, als eine Form von „self-breaking“ – so Crucifix – eines Mediums, als Bruch zwischen Narration und Zeichnung, der die Aufmerksamkeit auf die soziale und politische Ökonomie des gezeichneten Bildes lenkt. Eine große Stärke von Benoît Crucifixs Aufsatz liegt in der Anschlussfähigkeit von solchen Überlegungen und die terminologische und konzeptionelle Arbeit, die er leistet, wird der Comicforschung in der Zukunft sicherlich zugutekommen. 

Die Jury gratuliert Benoît Crucifix sehr herzlich zum Martin Schüwer-Publikationspreis 2021!

Lobende Erwähnungen für Anne Rüggemeier und Lukas Wilde

Neben dem Hauptpreis vergibt die Jury in diesem Jahr zwei lobende Erwähnungen. Sie gehen an Anne Rüggemeier von der Universität Freiburg für ihren Aufsatz „Transformative list-making: challenging heteronormativity and ableism in Ellen Forney’s somatographies“ sowie an Lukas Wilde von der Universität Tübingen für den Aufsatz „Material Conditions and Semiotic Affordances: Natsume Fusanosuke’s Many Fascinations with the Lines of Manga“.

Der Beitrag von Anne Rüggemeier ist im März 2020 im „Journal of Graphic Novels and Comics“ erschienen. Der Aufsatz von Lukas Wilde wurde im Frühjahr 2020 in der Zeitschrift „Mechademia: Second Arc“ publiziert.

Anne Rüggemeiers Beitrag verbindet für eine Analyse von Ellen Forneys autographischen Werken Marbles: Mania, Depression, Michelangelo & Me (2012) und Rock Steady: Brilliant Advice from my Bipolar Life (2018) Ansätze aus der Queer Theory mit einer Disability Studies-Perspektive. Dabei gelingt es ihr nicht nur, die komplexen, intersektionalen Verbindungen zwischen Forneys Sexualität, ihrem Leben als Künstlerin und ihrer psychischen Erkrankung herauszustellen. Durch den originellen Fokus auf die Form der ‚Liste‘ hebt die Verfasserin auch hervor, wie sich Forney auf ihrem Weg zur Akzeptanz ihrer bipolaren Erkrankung im Spannungsfeld zwischen medizinischer Autorität und eigener Erfahrung positioniert. Dabei geht sie besonders darauf ein, wie heteronormative Vorstellungen von Weiblichkeit sich mit der Diagnose und Behandlung ihrer Erkrankung vermischen und so den Anschein biopolitischer Disziplinierung erwecken, der sich Forney durch das subversive, transformative Potential der Liste widersetzt.

Mit seinem Beitrag arbeitet Lukas Wilde heraus, wie stark sich die japanische Theoriebildung rund um Mangas von westlich geprägter Comicforschung unterscheidet.  Gleichzeitig betont er das Potential einer gegenseitigen Fruchtbarmachung. Wilde setzt durch Bezüge zu japanischen Klassikern der Mangaforschung wie Natsume Fusanosuke und Takekuma Kentarōs Sammelwerk Manga no yomikata (1995, etwa: Wie man Manga liest) Anreize für eine internationale Theoriebildung, die ihre parallelen Entwicklungen in verschiedenen Ländern bewusst reflektiert und in einen verstärkten Austausch miteinander bringt. Dabei zeigt der Autor nicht nur bisherige Versäumnisse westlich zentrierter Theoriebildung auf. Durch seine Übersetzungen aus dem Japanischen verschafft er darüber hinaus einem englischsprachigen Publikum erstmalig Zugang zu Natsumes Überlegungen.

Die Jury gratuliert sehr herzlich zu diesen beiden gelungen Aufsätzen!

Die Jury des Martin Schüwer-Preises 2021
Kalina Kupczynska
Dorothee Marx
Joanna Nowotny
Daniel Stein
Gesine Wegner