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Verkündung des Martin Schüwer-Publikationspreises 2023

Wir freuen uns, dass dieses Jahr der Martin-Schüwer Publikationspreis, welcher von der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) und der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) ausgelobt wird, erneut vergeben wurde. Der Publikationspreis geht dieses Jahr an Anna Beckmann, lobende Erwähnungen gingen an Johannes C. P. Schmid und Christian Alexius.

Publikationspreis: Anna Beckmann

Anna Beckmann ist die fünfte Preisträger*in des Martin Schüwer-Publikationspreises, welcher seit 2019 jährlich ausgelobt wird. Mit der Auszeichnung werden Wissenschaftler*innen gefördert, die, unabhängig von ihrem Lebensalter, noch keine unbefristete akademische Anstellung innehaben.

Der Publikationspreis, der zur nachhaltigen Sichtbarmachung, Förderung und Vermittlung comicbezogener Forschungsarbeit beiträgt, erinnert an den viel zu früh verstorbenen Ausnahmewissenschaftler Martin Schüwer, dessen immer noch forschungsrelevante Dissertation „Wie Comics erzählen“ im Jahr 2008 und somit vor 15 Jahren erschien.

Austausch und Abgleich mit anderen waren Martin Schüwer bei seiner Forschung stets zentrale Anliegen – und er setzte durch Zugänglichkeit und Reichweite neue Maßstäbe für die deutsche Comicforschung. Zugänglichkeit und Reichweite sind auch wichtige Kriterien, die die Jury dazu bewogen haben, der Einreichung von Anna Beckmann den Martin Schüwer-Publikationspreis für herausragende Comicforschung zuzusprechen.

Abgesehen von ihren Veröffentlichungen ist Anna Beckmann vielen bekannt durch ihr Engagement in der Comic(forschungs)szene. Sie ist seit gut 10 Jahren aktives Mitglied des Berliner Comic-Kolloquiums und organisierte in diesem Kontext bereits als Studentin 2014 die Comic-Tagung „Grenzen ziehen, Grenzen überschreiten“ an der Humboldt Universität zu Berlin mit; gemeinsam mit Studierenden ihres Projekttutoriums präsentierte sie engagierte Analysen, u.a. zu den Comics Anke Feuchtenbergers. Für die AG Comicforschung in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM), ist sie seit 2020 im Vorstandsteam tätig. Hier war Anna Beckmann von Anbeginn aktiv und maßgeblich daran beteiligt, die AG zu einem wichtigen Ort für Debatten zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen zu machen, und die AG zu einem Forum zu machen, an dem sich aktiv gegen die Diskriminierung, Ausgrenzung und Benachteiligung marginalisierter Personen/Gruppen in der Academia eingesetzt wird – und somit Zugänglichkeit zum und Teilhabe am Diskurs im Schüwer’schen Sinne zu gewährleisten.

Anna Beckmann war und ist in der AG eine der treibenden Kräfte in Bezug auf das Vorantreiben „eine[r] diskriminierungssensible[n] und geschlechtergerechte[n] Einladungspraxis, um so zu einer vermehrten Sichtbarkeit, Förderung und Vernetzung non-hegemonialer Wissenschaftler*innen beizutragen und für unterschiedliche Formen von Macht-, Hierarchie- und gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse zu sensibilisieren“ (https://agcomic.net/diversity/, letzter Abruf am 3.9.2023). Sie wirkte sowohl am Statement der AG Comicforschung zur Gleichstellung und Diversität sowie an der Handreichung für eine diskriminierungssensible und geschlechtergerechte Veranstaltungs- und Publikationspraxis mit. Beide Dokumente sind auf der Homepage der AG zu finden und hiermit für die Community greif- und nutzbar.

In der AG betreut Anna Beckmann außerdem die Diversity-Steckbriefe, mit denen Forschung mit Diversity-Bezug und die dahinterstehenden Personen sichtbar gemacht werden. In einem der ersten Steckbriefe kommt auch Anna Beckmann selbst zu Wort und stellt ihre Forschung vor. Sie erläutert, dass sie erst an der Universität damit begonnen hat „sich intensiver mit Comics zu befassen“ (https://agcomic.net/2021/06/28/diversity-steckbrief-anna-beckmann/, letzter Abruf am 3.9.2023). Ausschlaggebend war hier ein Seminar über Geschichte in Comics an der Freien Universität Berlin. „Seitdem interessiere ich mich für narrative Unzuverlässigkeit, Ambivalenz, Mehrdeutigkeit und Strategien der Veruneindeutigung in Comics.“ Dieses Interesse manifestiert sich auch in Anna Beckmanns Publikationen, nicht zuletzt in ihrer Dissertationsschrift mit dem Titel „Aus dem Rahmen gefallen – Comics zwischen narrativer Unzuverlässigkeit und Strategien der Veruneindeutigung“.

Auch in Anna Beckmanns eingereichtem und heute prämiertem Text seht die Ambiguität im Fokus. In „Strategies of ambiguity. Non-binary figurations in German-language comics“, der 2021 in dem von Kristy Beers Fägersten, Anna Nordenstam, Leena Romu and Margareta Wallin Wictorin herausgegebenen Band: „Comic Art and Feminism in the Baltic Sea Region: Transnational Perspectives“ erschien, zeigt Anna Beckmann überzeugend auf, wie narrative Strategien der Mehrdeutigkeit und mehrdeutige Zeichenkonstellationen in feministischen und queeren Comics genutzt werden, um das vorherrschende binäre Konzept von Geschlecht zu hinterfragen. Sie zieht hierzu vier deutschsprachige Beispiele heran, in denen nicht-binäre Zeichen eine zentrale Rolle spielen, und zeigt an diesen die spezifischen ästhetischen Möglichkeiten auf, die Comics für queere und feministische Geschlechterdarstellungen bieten.

„In einer Welt, in der die Diskussionen über Geschlecht und Identität immer komplexer werden, ist es unerlässlich, dass wir Kunstwerke wie Comics aus einer diskriminierungssensiblen Perspektive betrachten und diskutieren“, schreibt Anna Beckmann in ihrer Einreichungsbegründung – und genau dieser Herangehensweise hat sie sich als Autorin und Akteurin verschrieben.

In ihrem prämierten Beitrag analysiert sie gestützt auf Theorien der Comic-, Literatur- und Filmwissenschaft, welche narrativen und gestalterischen Potenziale Comics für das kritisch-reflektierte Spiel mit medialen Konventionen und das Hinterfragen von gesellschaftlich normierten Geschlechterkonzepten bieten.

Durch die Auswahl ihrer Beispiele zur Sichtbarkeit von Nicht-Binarität in Comics, die nicht dem etablierten gleichwohl hinterfragenswürdigen Kanon der Comicforschung zuzurechnen sind, bringt Anna Beckmann zudem deutschsprachige Comics in den internationalen Fachdiskurs ein und bewirkt hierdurch sowohl die Visibilität deutschsprachiger Comicschaffender als auch die Sichtbarmachung der im internationalen Diskurs immer noch marginalisierten Comicforschung „made in Germany“.

Auch wegen dieser dreifachen Sichtbar- und Zugänglichmachung gebührt Anna Beckmann für „Strategies of ambiguity. Non-binary figurations in German-language comics“ der diesjährige Martin Schüwer-Publikationspreis für herausragende Comicforschung und es steht zu wünschen, dass der Preis wiederum dazu beiträgt, Anna Beckmanns in hohem Maße lesenswerten und zugleich lesbaren Text noch sichtbarer zu machen.

Lobende Erwähnung: Christian Alexius

Lobende Erwähnung für den Aufsatz „Comicforschung und Filmwissenschaft: Wechselwirkungen, ausgelassene Pfade und mögliche Wege in eine gemeinsame Interdisziplinarität“ von Christian Alexius in MEDIENwissenschaft: Rezensionen | Reviews, Jg. 39 (2022), Nr. 1, S. 7–24. https://mediarep.org/items/0845f6e9-cbb9-46cd-aecf-a2256183f6f0

Mit „Comicforschung und Filmwissenschaft: Wechselwirkungen, ausgelassene Pfade und mögliche Wege in eine gemeinsame Interdisziplinarität“ legt Christian Alexius eine bemerkenswerte Intervention zum derzeitigen Stand der Comicforschung vor. In sehr grundsätzlicher und wissenschaftshistorisch fundierter Weise rekonstruiert der Autor das unbequeme und vielfältig asymmetrische Verhältnis zwischen Film- und Comicforschung in den letzten Jahrzehnten. Alexius, selbst qua Institution Filmwissenschaftler, nähert sich diesem Zusammenspiel aus einer kritischen epistemologischen Perspektive an, was den Aufsatz besonders auszeichnet: Eine scheinbare Vertrautheit mit Film und auch filmwissenschaftlichen Kategorien werde nämlich in beinahe jedem Comicforschungswerk vorausgesetzt, wenn etwa von „filmischen“ Gestaltungs- oder Erzählmitteln im Comic gesprochen wird. Häufig aber, so Alexius‘ Kritik, leistet dies einem essentialistischen, letztlich amorphen Film- und damit auch Comicverständnis Vorschub, statt bestimmte, historisch und kulturell verortete Stumm-, Animations-, Experimental- oder Spielfilmgattungen präzise zu beschreiben. Aus dem Befund einer teils unreflektierten Vereinnahmung von Filmbezügen heraus entwirft der Text aber auch eine ebenso sorgsam erarbeitete Kritik der übermäßigen Abgrenzung beider Forschungsrichtungen, welche der Sehnsucht nach „Eigenständigkeit“ und damit wohl der (wissenschafts)kulturellen Anerkennung der jüngeren Disziplin geschuldet sein dürfte. Alexius präsentiert ein durchaus forsches und mit exemplarischen Analysen unterfüttertes Plädoyer zur kontext- und mediensensiblen Interdisziplinarität und zum „wissenschaftlichen Freibeuterum“, um so auch „vernachlässigte Pfade der Filmwissenschaft“ zu erschließen und produktive Irritationen beider Felder zu befördern.

Lobende Erwähnung: Johannes C. P. Schmid

Lobende Erwähnung für den Aufsatz „Cultural Genocide in Joe Sacco’s Paying the Land“ von Johannes C. P. Schmid im Journal of Perpetrator Research 4.2 (2022), S. 111-144, http://doi.org/10.21039/jpr.4.2.114.

In seinem Aufsatz legt Johannes C. P. Schmid ein close reading der dokumentarischen Graphic Novel Paying the Land von Joe Sacco über die First Nations in den Northwest Territories Kanadas vor. Die überzeugende präzise Analyse sowie die schlüssige Argumentation basieren auf Konzepten der Täter- und Genozidforschung sowie auf postkolonialen Perspektiven. Dabei wird vornehmlich der Begriff des „kulturellen Genozids“ im Zusammenhang mit dem so genannten Indian Residential School System, der bis in die 1990er Jahre andauernden Zwangsbeschulung von indigenen Kindern in Internaten, problematisiert. Im Mittelpunkt stehen Saccos visuelle Repräsentationsstrategien unterschiedlicher Täter:innengruppen, zu denen Regierungen und Politiker genauso gehören wie das Lehrpersonal an den residential schools, aber auch Angehörige der First Nations selbst. Schmid beleuchtet, auch unter Berücksichtigung früherer Werke des Autors, wie dieser Methoden der oral history einsetzt, um die andauernden Auswirkungen kolonialer Herrschaftsverhältnisse in den Northwest Territories Kanadas, etwa durch die transgenerationale Weitergabe von Traumata, bis heute aufzuzeigen. Unter Verwendung des Begriffs des implicated subjects (Michael Rothberg) arbeitet der Aufsatz heraus, dass Sacco comicspezifische Darstellungsmittel nutzt, um ein westliches Publikum mit dem Ziel zu adressieren, die eigene Verflechtung in Geschichte und Gegenwart kolonialer Machtstrukturen sowie die daraus resultierende Verantwortung zu reflektieren.